Leserbriefe Dienstag, 15.12.2009 |  Drucken

Leserbriefe



Dr. Ibrahim Becker schrieb:
Minarettverbot und „Islamophobie“ – Angst wovor?


„Die Schweiz“ hat gesprochen. Die Mehrheit derjenigen Schweizer Bürger, die an der Volksabstimmung über das Minarettverbot teilgenommen haben – dies waren immerhin über 50% und damit mehr als von allen Beobachtern zuvor prognostiziert –, hat sich für ein Verbot des Baus weiterer Minarette ausgesprochen. Bislang gab es in der Schweiz nach Presseangaben vier Minarette. Zwei weitere befanden sich in der Planungsphase. Diese Planungen sind nun, soviel dürfte gewiss sein, vorläufig zum Stillstand gekommen.Was genau lässt sich aus diesem Ergebnis ablesen, das auf den ersten Blick eigentlich für jeden aufgeklärten Europäer ebenso erschreckend sein müsste, wie es für alle Meinungsforscher und Beobachter offensichtlich überraschend war? Zunächst einmal gibt es sicher eine Reihe von spezifisch schweizerischen Ursachen. Glaubt man ersten Einschätzungen in der Deutschen Presse, so waren signifikante Teile der Bevölkerung unzufrieden damit, wie die Regierung die Schweiz nach außen hin anlässlich einiger Kontroversen in jüngerer Zeit vertreten hat.
Genannt werden insofern die unter internationalem Druck erfolgte Lockerung des Bankgeheimnisses und die „Gaddafi-Affäre“. Es mag sein, dass insofern einige Wähler einen „Denkzettel“ für erforderlich hielten, dass sie aus einer Protesthaltung heraus entsprechend votierten. Eine solche Erklärung dürfte all jenen gefallen, die sich nur schwer mit dem Gedanken abfinden können, dass es in einer europäischen Demokratie ein derart großes Ausmaß an Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit gibt, wie es in dem Ergebnis scheinbar zum Ausdruck kommt. Sicher lässt sich das Resultat teilweise mit solchen „innereidgenössischen“ Ursachen erklären, aber wohl nicht vollständig.

Ein anderer Erklärungsansatz ist der, dass in dem Ergebnis eine in zahlreichen europäischen Gesellschaften mehr oder weniger latent vorhandene Distanz, respektive Feindschaft gegenüber den muslimischen Einwanderern bzw. dem Islam zum Ausdruck kommt. Diese Deutung machen sich natürlich nicht zuletzt diejenigen Rechtspopulisten zu eigen, die das Votum erst ins Rollen gebracht haben. Sie verbuchen die Abstimmung als klaren Sieg und sehen darin den Ausdruck einer bislang schweigenden, in allen europäischen Gesellschaften aber prinzipiell vorhandenen Mehrheit, die sich gegen eine vermeintliche „Islamisierung“ Europas wendet.
Für diese Lesart mag sprechen, dass rechtspopulistische Parteien in einigen europäischen Ländern auf dem Vormarsch sind, namentlich in Österreich und in den Niederlanden, die lange Zeit als Musterbeispiel für die gelungene Integration von Einwanderern galten.
In der Bundesrepublik dagegen sind solche Organisationen bislang Splittergruppen, wie die kümmerlichen Bemühungen einer Kölner „Bürgerbewegung“ zeigen, die erfolglos versuchte, die Bevölkerung gegen den Bau einer Moschee zu mobilisieren. Doch auch in Deutschland werden sich diese Bewegungen nun gestärkt fühlen und das Resultat als Ansporn verstehen, weiter für die Interessen der vermeintlich schweigenden Mehrheit zu kämpfen. Im Übrigen zeigen auch die ersten politischen Reaktionen in der Bundesrepublik, dass es in den Reihen der etablierten Parteien durchaus Politiker gibt, die bereit sind, sich in der Diktion rechtspopulistischer Organisationen zu äußern.
Hier hat sich insbesondere der CDU-Mann Wolfgang Bosbach hervorgetan, wobei dieser Begriff durchaus euphemistisch verstanden werden soll. Er glaubt, auch in Deutschland eine „wachsende Angst vor Islamisierung“ ausgemacht zu haben, die man ernst nehmen müsse. Dass darüber hinaus Thilo Sarrazin Verständnis für das Votum äußert, sollte – wie dessen Person insgesamt – nicht mehr als eine unbedeutende Randnotiz sein.

Nun wäre freilich alles andere als das Schweizer Votum „ernst zu nehmen“ mehr als gefährlich. Selbst wenn man um die Schwächen der direkten Demokratie und ihre Anfälligkeit für populistisch verbreitete Anliegen weiß, weshalb das Grundgesetz gegenüber dieser Form der Volksherrschaft mit guten Gründen sehr zurückhaltend ist, lassen sich gesellschaftliche Spannungen zwischen Mehrheitsgesellschaft und muslimischen Einwanderern in allen großen Europäischen Demokratien kaum wegdiskutieren. Da hilft es wenig, wenn darauf hingewiesen wird, dass Einwanderung unbestritten eine ökonomische Notwendigkeit war und ist. Ebenso wenig nützt es darauf zu verweisen, dass unser Grundgesetz ebenso wie die Europäische Verfassung die Religionsfreiheit zu Recht als ein hohes Gut anerkennt, weshalb es auf der Basis unserer eigenen Werteordnung vollkommen inakzeptabel ist, einem Moslem die Ausübung seiner Religion zu untersagen oder ihn darin auch nur einzuschränken, so lange er nicht in die Rechte Dritter eingreift. All dies würde womöglich von vielen potentiellen Befürwortern eines Minarettverbotes vermutlich als „Gutmenschentum“ gezeiht. Mit besonnenen Argumenten ist der in vielen Ländern kochenden Diskussion kaum noch beizukommen. Jenseits von wirtschaftlichen Notwendigkeiten und Verfassungsgrundsätzen werden Minarette, Moscheen und Kopftücher per se zu Problemen.

Die Suche nach Verantwortlichen für diese gesellschaftlichen Spannungen ist nicht einfach. Natürlich sind hier zu allererst die Populisten zu nennen, die vorhandene Ängste in der Bevölkerung ausnutzen, um so politische Macht zu erlangen. Doch sie erschaffen die Ängste wohl nur zu einem gewissen Teil. Häufig bauen sie auf mehr oder weniger latent vorhandenen Befindlichkeiten auf. Die Rechtspopulisten sind also nur sehr bedingt „die Wurzel des Übels“. Sie sind vielmehr Profiteure, was freilich mindestens ebenso schändlich ist.
Auch lassen sich die Politiker der etablierten Parteien in die Verantwortung ziehen, die rechtspopulistischen Kräften nicht oder nur halbherzig entgegentreten bzw. zum Teil sogar deren Inhalte aufgreifen. Wer braucht Le Pen oder Wilders, wenn er Bosbach und Sarrazin hat? Hier ist auch die mehr als unrühmliche Rolle weiter Teile der Medien in den Blick zu nehmen, die durch vereinfachende, teils unseriöse und an Hetze grenzende Darstellungen zur Vertiefung gesellschaftlicher Gräben beitragen. Schließlich tragen auch einige Mitglieder der muslimischen Gemeinschaft in Europa selbst einen gewissen Anteil an Verantwortung für die sich mehr und mehr zuspitzende Situation, indem sie eine Opfermentalität annehmen und sich als „Fremdkörper“ im Westen empfinden und präsentieren, anstatt „als Moslems“, also ohne Aufgabe ihrer religiösen Identität, einen positiven Beitrag zum gesellschaftlichen Leben zu erbringen.

Es wäre nur wenig überraschend, wenn auch eine Reihe von Moslems das Schweizer Votum mit einer perfiden Form von Genugtuung zur Kenntnis nehmen würde, denn nun können sie sagen, sie haben es ja schon immer gewusst. Keiner dieser Erklärungen kann jegliche Berechtigung abgesprochen werden. Aber der eigentliche Kern des Problems ist bislang nicht benannt.
Wovor haben die Menschen eigentlich solche Angst? Fürchten sich aufgeklärte erwachsene Menschen wirklich davor, dass einige ihrer Mitbürger einer anderen Religion – bzw. überhaupt einer Religion – angehören, Gotteshäuser mit Türmen bauen, rituelle Gebete verrichten, keinen Alkohol trinken und kein Schweinefleisch essen oder das Frauen ihren Kopf bedecken und weite Gewänder anstelle von Miniröcken tragen? Man sollte doch meinen, solche Dinge seien für einen gestandenen Demokraten erträglich.
Dass es in der islamischen Gemeinschaft Missstände bis hin zu kriminellen Auswüchsen gibt, unterscheidet sie nicht vom Rest unserer, ja letztlich jeder Gesellschaft. Ein rationaler Grund für eine spezifische „Islamophobie“ kann hierin eigentlich nicht liegen. Dies lässt den Verdacht aufkommen, dass den Ängsten andere Ursachen zugrunde liegen und dass diese von Rechtspopulisten, (einigen) Medien und anderen Interessierten auf „die Moslems“ bzw. „den Islam“ projiziert werden. Es stellt sich also die Frage, welche Gründe es für Ängste in der westlichen Welt des beginnenden 21. Jahrhunderts geben könnte.

Nun, ein solcher Grund steckt uns sprichwörtlich noch in den Knochen: die Finanzkrise. Dass unser Gemeinwesen von einem undurchschaubaren Finanzmarkt abhängig und von seinen Akteuren praktisch willkürlich erpressbar ist, dass sich an den internationalen Kapitalmärkten unkontrollierbare Vorgänge abspielen, die im Handstreich zigtausende Jobs in unseren Industriestaaten kosten können, das ist erst kürzlich schmerzhaft bewusst geworden.
Sicher ein Grund, um Angst zu haben. Überhaupt wirft das mal positiv mal negativ besetzte Schlagwort „Globalisierung“ eine Reihe von Fragen auf und die diesbezüglichen Antworten bzw. das Fehlen solcher Antworten mögen ebenfalls eine Ursache für Angst sein. Sind Begriffe wie „Leistung“ oder „Erfolg“ ausschließlich mit ökonomisch messbaren Größen verknüpft? Was passiert mit mir, wenn ich zu denjenigen gehöre, die bei diesem Raster weder unter den „Leistungsträgern“ noch unter den „Erfolgreichen“ sind?
Dabei handelt es sich um eine in den westlichen Demokratien wachsende Schicht, die einer ungewissen und problembeladenen Zukunft entgegenblickt. Fakt ist: der Wettbewerb zwischen den Volkswirtschaften nimmt dramatisch zu und so auch der Wettbewerb innerhalb der Bevölkerungen, die diese Volkswirtschaften ausmachen.
Eine Verschärfung des Wettbewerbs bedeutet immer, dass mehr Wettbewerber auf der Strecke bleiben. Ob man an diesem Wettbewerb überhaupt teilnehmen will, danach wird schon lange nicht mehr gefragt. Da es – auch dies haben nicht zuletzt die jüngsten Entwicklungen gezeigt – nahezu jeden treffen kann, gibt es für viele Leute gute Gründe, Angst zu haben. Vermutlich, und dies muss hier mangels Beweisbarkeit eine bloße Vermutung bleiben, ist es ein Teil dieser Ängste, die zu dem „kanalisiert“ werden, was dann als „Islamophobie“ in den westlichen Gesellschaften in Erscheinung tritt.
Ein gnadenloser Wettbewerb um mehr Wachstum bzw. Profit auf allen Ebenen ist jedenfalls eher geeignet, Furcht zu verursachen, als eine Frau mit Kopftuch oder ein Mann mit Bart. Daher spricht vieles dafür, dass die wahren Ursachen für die Ängste in weiten Teilen der europäischen Bevölkerung andere sind und dass die Dämonisierung des Islam letztlich nichts als ein mehr oder weniger gesteuertes Ablenkungsmanöver darstellt. Was lässt sich dem für die Zukunft entnehmen?

Wollen Muslime dazu beitragen, die gesellschaftlichen Spannungen rund um ihre Präsenz in Europa zu lösen, so gilt es natürlich zunächst, den Islam und seine wahre Botschaft in Wort und Tat gegenüber der Mehrheitsgesellschaft zu repräsentieren, damit der oft von einigen Medien verbreitete negative Eindruck widerlegt werden kann. Darüber hinaus ist es aber notwendig, die Ursachen der Ängste zu bekämpfen, die sich mehr und mehr in Richtung „der Moslems“ entladen. Es müssen Antworten auf die Fragen gesucht werden, mit denen sich alle Bürger – Muslime und Nichtmuslime – angesichts des mehr und mehr ausufernden Kapitalismus konfrontiert sehen.
Aus der Perspektive eines gläubigen Muslim kann es keinen Zweifel daran geben, dass diese Antworten im Koran und in der Sunna des Propheten zu finden sind, wie ein gläubiger Christ solche Antworten womöglich in der Bergpredigt Jesu suchen würde. Aber angesichts der Komplexität der modernen Welt, die mit der Zeit der koranischen Offenbarung wenig bis gar nichts gemeinsam hat, können es keine simplen Antworten sein.
Nur selten werden sich Ansätze für „islamische“ Lösungen von gesellschaftlichen Problemen unserer Zeit unmittelbar und für jeden ohne weiteres erkennbar aus einem Koranvers oder einem Hadith ergeben. Dies gilt nicht zuletzt schon deshalb, weil die unterschiedlichen Gesellschaften im Westen jeweils vor unterschiedlichen Problemen bzw. Herausforderungen stehen, von der völlig anderen Situation in Ländern der Dritten Welt ganz zu schweigen.
Die Anwendung universeller Prinzipien in unterschiedlichen Kontexten muss notwendig zu unterschiedlichen Ergebnissen, Maßnahmen und Ausprägungen führen. Dies bedeutet nicht die Negation der Universalität, es bringt sie vielmehr angemessen zur Geltung.
Man kann westliche Muslime also nur davor warnen, sich auf der Erkenntnis „auszuruhen“, dass ihnen im Koran die göttliche Wahrheit und damit der Schlüssel zur Lösung weltlicher Probleme offenbart wurde. Dies entbindet nicht von der Pflicht, durch akribische Untersuchung der Quellen die universellen Prinzipien des Islam zu entwickeln und sie in konkrete Lösungen für zeitgenössische Probleme umzusetzen.
So ist beispielsweise ein womöglich sogar schadenfroher Hinweis auf das Zinsverbot angesichts der aktuellen Finanzmarktkrise keine fundierte Kapitalismuskritik aus islamischer Perspektive. Erst recht genügt das Zinsverbot allein nicht einmal ansatzweise zur Beantwortung der Frage, wie eine Wirtschaftsordnung zum einen gerecht sein kann und gleichzeitig eine Wirtschaftsleistung ermöglicht, die den Energie-, Rohstoff und Nahrungshunger einer Weltbevölkerung von bald 10 Milliarden Menschen zu befriedigen in der Lage ist.

Wenn westliche Muslime sich aktiv und sichtbar an der Suche nach Antworten auf diese Fragen beteiligen - gemeinsam mit allen Mitbürgern, die an gerechten und menschlichen Lösungen interessiert sind –, dann bekämpfen sie die um sich greifende „Islamophobie“ in zweierlei Hinsicht: Sie wirken daran mit, die eigentlichen Ursachen der Ängste bzw. der Unsicherheit in den westlichen Bevölkerungen zu beseitigen und sie sind im besten Sinne „Zeugen“ ihrer Religion und zeigen ihren nichtmuslimischen Mitbürgern, dass ein wahrer Muslim nach einer gerechteren Welt für alle Menschen strebt.
Zum Schluss sei erwähnt: An vorderster Front trifft natürlich – und dies soll hier nicht verschwiegen werden – diejenigen die Schuld an dem trotz allem beschämenden Schweizer Votum, die für ein Verbot von Minaretten gestimmt haben. Der Versuch, bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen zu erklären, kann Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit nicht rechtfertigen.

Bezogen auf: Schweiz gegen die Religionsfreiheit
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